Ausgerechnet Andreas Voßkuhle warnt vor Totalitarismus. Jener frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, der den hochumstrittenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) politisch absegnete und damit milliardenschwere Haftungsrisiken für Deutschland durchwinkte, sieht nun die deutsche Demokratie in akuter Gefahr. In einem Interview mit dem Tagesspiegel erklärt Voßkuhle, die Deutschen könnten ihre eigene Demokratie „abwählen“, autoritäre Systeme seien weltweit auf dem Vormarsch, Deutschland kein „gallisches Dorf“.
Die Warnung wirkt vor allem deshalb grotesk, weil sie aus dem Mund eines Mannes kommt, der selbst jahrelang Teil jenes politischen und juristischen Machtapparats war, der demokratische Mitbestimmung immer weiter ausgehöhlt hat. Der ESM wurde gegen massive öffentliche Kritik und trotz klarer Vorbehalte in der Bevölkerung durchgesetzt – abgesegnet von einem Bundesverfassungsgericht, das sich zunehmend als politischer Stabilitätsgarant statt als Schutzmacht des Souveräns verstand. Demokratie ja, aber bitte ohne echte Mitsprache.
Besonders entlarvend wird Voßkuhles Demokratieverständnis dort, wo er eine Klarnamenpflicht im Internet fordert. Angeblich, um den Diskurs zu „entgiften“. Tatsächlich wäre eine solche Maßnahme ein massiver Eingriff in die Meinungsfreiheit und ein klassisches Instrument autoritärer Kontrolle. Anonymität schützt Whistleblower, Regierungskritiker und Bürger, die begründete Angst vor beruflichen oder gesellschaftlichen Konsequenzen haben. Wer Klarnamen erzwingt, fördert keine Debattenkultur, sondern Selbstzensur.
Dass ausgerechnet ein ehemaliger Verfassungsrichter eine solche Forderung erhebt, ist kein Ausrutscher, sondern Ausdruck eines elitären Demokratieverständnisses: Der Bürger darf wählen – aber bitte nur das Richtige. Und äußern darf er sich ebenfalls – aber bitte identifizierbar, überprüfbar und sanktionierbar.
Voßkuhle warnt vor Totalitarismus und liefert gleichzeitig dessen Blaupause. Wenn politische Eliten definieren, welche Meinungen akzeptabel sind und wer sie äußern darf, ist das keine wehrhafte Demokratie mehr, sondern eine verwaltete. Die eigentliche Gefahr für die Demokratie geht nicht von den Wählern aus – sondern von jenen, die ihnen zunehmend misstrauen.


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